Shu Ha Ri: Drei Phasen des Verstehens im Iaido

Der japanische Begriff Shu Ha Ri (守破離) beschreibt, wie Wissen in der Kampfkunst reift. Nicht als starres Regelsystem, sondern als wachsender Prozess.

1. Shu (守): Grundlagen aufbauen

  • Was geschieht? Techniken wie zum Beispiel Nukitsuke (Schwertziehen) oder Tenouchi (Handhaltung) werden durch ständige Wiederholung verinnerlicht.
  • Beobachtung: Manche bleiben hier im Stadium des Nachahmens stehen – fokussiert auf äußere Korrektheit.
  • Funktion der Shu-Phase: Es bildet sich eine solide Basis, ohne die kommende Weiterentwicklung unsicher bleibt. Wird ein Schnitt ohne korrektes Tenouchi durchgeführt, entsteht ein Schlag: der Körper beteiligt sich nur wenig am Prozess, das Schwert wird zum Werkzeug.

2. Ha (破): Prinzipien erkennen

  • Was geschieht? Eine Analyse des Warums entsteht: Warum dieser Winkel? Warum diese Bewegung in dieser Situation? Die Kata wird zum Untersuchungsgegenstand.
  • Beobachtung: Statt ›perfekter‹ Äußerlichkeiten geht es nun um effektive Wirkprinzipien (Kraftfluss, Balance).
  • Funktion der Ha-Phase: Übergang vom ›Wie‹-Lernen zum ›Weshalb‹ = Verstehen. Ein Beispiel vertieften vertikalen Lernens: vergleiche die verschiedenen Ausführungen der Form Nukiuchi über die verschiedenen Schulen hinweg.

3. Ri (離): Eigenes Handeln

  • Was geschieht? Techniken entstehen aus Situation und Verständnis – nicht aus Erinnerung an Formvorgaben.
  • Beobachtung: Hier kehrt oft der Geist des Anfängers zurück: neugierig, unvoreingenommen. Warum nicht einmal in anderen Schulen schauen, wie eine Bewegung dort verstanden wird? Sehr aufschlussreich! Wie sind demnach die Ausführungen von Okudenkata zu entschlüsseln? Ein weites Feld öffnet sich.
  • Funktion von Ri: Wissen wird handlungsfähig – jenseits festgelegter Muster wird dadurch volle Verantwortung für die Ausführung übernommen.

Herausforderungen im Lernprozess

  1. Fixierung auf Äußerlichkeiten
    Wenn exakte Winkel wichtiger werden als das Verstehen ihrer Funktion, verliert Üben seine Tiefe.
  2. Unhinterfragte Tradition
    Historische Formen sind Prüfsteine des Lernens — nicht unveränderliche Wahrheiten.

Der Kreislauf

  • Jede Phase nährt die nächste.
  • Stockt die Entwicklung, wird Üben zur Routine ohne Wachstum.

Zum Geist des Anfängers (Shoshin)

»Im Geist des Anfängers viele Möglichkeiten, im Geist des Experten wenige.« (Shunryū Suzuki)

  • Wer nur reproduziert, sieht weniger Möglichkeiten. Begrenzung durch Anweisung taugt zur Beschreibung, schnürt aber die Entwicklung ein. Iaido ist kein Tanz, keine Folklore, sondern eine technisch anspruchsvolle funktionelle Kampfkunst.
  • Wer versteht, entdeckt neue Fragen. Wer sich selbst zum Erreichten befragt, verlässt die Komfortzone aus Nachmachen, Belobigung, Auszeichnung und Anerkennung. Er erfährt Freiheit, gelangt damit auch in die Verantwortung seines Tuns. Sicher ist allerdings, das Erfahrende kann nicht erdacht, sondern nur erübt werden.

Fazit

Iaido-Entwicklung vollzieht sich in drei dynamischen Phasen:

  1. Formen lernen (Shu).
  2. Ihr Funktionieren verstehen (Ha).
  3. Aus diesem Verstehen handeln (Ri).

Ob dieser Prozess gelingt, zeigt sich daran, ob das Üben den Praktizierenden verändert – oder nur seine Techniken. Ein ›Blick über den Tellerrand‹, indem man andere Ryu (Schwertschulen) beobachtet oder übt, ist sehr hilfreich.

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