Nukitsuke (抜き付け) mit Konzept
Iaido auf das schnelle Schwertziehen zu reduzieren, greift zu kurz. Gewiss, die erste Aktion muss unmittelbar erfolgen, um einen agierenden Gegner zu bezwingen. Ein effektives Nukitsuke (抜き付け) verschleiert deine Absicht und wahre Fähigkeit. Es wirkt unscheinbar und erzeugt eine asymmetrische Wirkung. Doch dieser erste Zug einer Kata birgt bereits diverse Konzepte, die weit über reine Geschwindigkeit hinausgehen. Genau diese Konzepte sollen hier genauer beleuchtet werden.
Sen (先): Die Kunst der Initiative
In den japanischen Kampfkünsten wie Iaido und Kendo ist das Konzept von ›Sen‹ von zentraler Bedeutung für dein Timing und deine Taktik im Kampf. Das Konzept von Sen (先 – Initiative, Vorher, Führung) beschreibt, wie du die Initiative im entscheidenden Moment ergreifst. Folglich geht es weniger um bloße Schnelligkeit, sondern um eine Kombination aus Wahrnehmung, Timing und mentaler Präsenz.
Darüber hinaus gibt es drei Hauptstufen von ›Sen‹. Diese definieren den Zeitpunkt deiner Aktion im Verhältnis zur Aktion des Gegners.
1. Sen-sen-no-Sen (先々の先): Die Initiative vor der Initiative
Dies ist die höchste und anspruchsvollste Form der Initiative. Es bedeutet, die Absicht des Gegners zu spüren und proaktiv zu handeln, noch bevor dieser überhaupt seinen Angriff beginnt. Du agierst sogar, bevor er die Entscheidung zu einem Angriff endgültig gefasst hat. Im Grunde genommen ›liest‹ man den Gegner intuitiv.
Hier geht es darum, eine Lücke zu erkennen, die nicht physisch sichtbar ist, sondern eine mentale Unsicherheit oder eine unentschlossene Bewegung im Geist des Gegners. Du greifst an, wenn der Gegner mental noch nicht vollständig vorbereitet ist oder gerade seine Energie sammelt. Somit macht dein eigener Angriff die (noch nicht vollständig manifestierte) Angriffsabsicht des Gegners zunichte.
Wie erkennst du diesen Moment? Der Gegner beginnt, seine Atmung zu ändern oder eine minimale Anspannung zu zeigen. Dies deutet auf einen bevorstehenden Angriff hin. Du nutzt diesen Moment, um bestimmt deinen eigenen Move auszuführen und den Angriff des Gegners im Keim zu ersticken. Demnach ist es ein Angriff auf die ›Idee‹ des gegnerischen Angriffs. Man verfolgt das Konzept vor allem in der Kata Mae oder in ähnlichen Situationen.
2. Sen-no-Sen (先の先): Die Initiative in der Initiative
Bei Sen-no-Sen handelst du genau in dem Moment, in dem der Gegner seinen Angriff beginnt oder in der frühen Phase seiner Ausführung ist. Du reagierst auf die erste sichtbare Bewegung oder das erste Anzeichen des Angriffs, indem du deinen eigenen Angriff startest. Ziel ist es, den Gegner zu überholen oder zu unterbrechen.
Der Gegner hat seine Angriffsabsicht manifestiert und beginnt, sich zu bewegen. Also nutzt du diese Bewegung und den entstehenden Spalt (Suki) aus. Es ist ein Timing, bei dem dein eigener Angriff den des Gegners kreuzt oder abfängt, bevor dieser seine volle Wirkung entfalten kann.
Wenn der Gegner anhebt, um auszuholen, oder einen Schritt nach vorne macht, reagierst du sofort mit einem eigenen Schnitt oder Stich. Dadurch triffst du den Gegner, bevor sein eigener Schlag ausgeführt ist. Du stiehlst ihm sozusagen die Initiative im Angriffsfluss. Das kannst du sehr gut in der Kata Morotezuki üben.
3. Go-no-Sen (後の先): Die Initiative nach der Initiative / Konter-Initiative
Go-no-Sen bedeutet, die Initiative zu ergreifen, nachdem der Gegner seinen Angriff ausgeführt hat. Alternativ kann dies auch nach einem Angriff geschehen, der ins Leere ging, blockiert oder abgewehrt wurde. Es ist eine Gegenaktion, die die fehlende Balance, den offenen Zustand oder die Erschöpfung des Gegners nach seinem Angriff nutzt.
Du absorbierst den gegnerischen Angriff, wehrst ihn ab oder weichst ihm aus. Anschließend nutzt du den Moment der Öffnung oder des Ungleichgewichts deines Gegners, um einen eigenen, entscheidenden Gegenangriff zu starten. Dies ist eine defensive Reaktion, die in eine offensive Übernahme der Kontrolle übergeht. Go-no-Sen ist nicht die beliebteste Idee im Budo, da du hierbei die Initiative verlierst. Indem du reagierst, verringerst du auch deine Chance auf einen Sieg.
Der Gegner schlägt zu, und du weichst aus, parierst den Schlag oder blockierst ihn. Im Moment, in dem der gegnerische Schlag vorbeigegangen ist oder abgewehrt wurde, führst du deinen eigenen Gegenangriff aus. Diese Vorstellung wird in diversen Kata deutlich, beispielsweise in der Kata Ukenagashi oder Soogiri.
Beispiele praktisch im Kendo
Fazit
Diese drei Konzepte von ›Sen‹ sind grundlegend für das Verständnis von Timing, Distanz (Ma-ai) und mentaler Geisteshaltung. Ein gutes Nukitsuke als proaktive Aktion beruht darauf. Beim Iaido kommt als grundlegende Anforderung hinzu, die Aktion ohne Unterbrechung und Lücke im Bewegungsfluss durchzuführen. Das erfordert volle Präsenz und Aufmerksamkeit.